City of Hope – Oase des Friedens

Warum bosnische NaturFreunde in Srebrenica ein Urlaubsdorf bauen

© 

Schon seit der letzten Kleinstadt bin ich der einzige Gast im Bus aus Sarajevo. Wir sind um 7:10 Uhr losgefahren, doch erst jetzt werde ich wach: Auf der rechten Seite erstreckt sich eine schier unfassbare Menge identischer Gräber. Mit einem Kloß im Hals lenke ich meinen Blick auf die andere Straßenseite, wo ich das ehemalige Dutchbat-Hauptquartier vermute, dessen Anblick ich aus Dokumentarfilmen kenne. Ich fühle mich traurig.

Auf dem Friedhof der Gedenkstätte Potočari wurden bisher etwa 7.000 der vermutlich 8.732 Opfer des Genozids an der bosniakischen Bevölkerung bestattet, auch bekannt als Massaker von Srebrenica. Der Großteil dieser Menschen
wurde zwischen dem 11. und dem 19. Juli 1995 ermordet, nachdem sie vergebens den Schutz des niederländischen UN-Kontingents (Dutchbat) gesucht hatten.

Über den Autor
Fonger Huisman ist Mitglied der niederländischen NaturFreunde (NIVON) und hat unter anderem Serbisch und Kroatisch gelernt. Im Sommer möchte er wieder nach Srebrenica fahren.

Wir fahren am Busbahnhof vorbei. Während ich noch bedrückt meine Stimme suche, hält der Fahrer schon und sagt, dass ich hier im Zentrum einfach aussteigen kann. Mein Begleiter für die nächsten Tage, Irvin, steigt gleichzeitig aus einem Auto aus und lädt mich erst mal auf einen Kaffee ein. Im Wirtshaus freuen sich alle, dass ein Ausländer ihre Sprache gelernt hat, auch wenn ich vielmehr eine Mischung aus Serbisch und Kroatisch spreche. Zum Kaffee gibt es Börek.

Sofort fange ich an, Irvin auszufragen. Ich bin nämlich im Auftrag der niederländischen NaturFreunde (NIVON) nach Bosnien gefahren, um das von Irvin initierte Projekt „City of Hope“ der bosnischen NaturFreunde in Augenschein zu nehmen und einen Bericht zu verfassen. NIVON möchte das Projekt nämlich unterstützen – anlässlich des 25. Gedenktages des Massakers von Srebrenica und hinsichtlich der umstrittenen Rolle der Niederlande im Konflikt.

Als Kind nach Italien geflüchtet ist Irvin Mujčić vor wenigen Jahren zurückgekehrt, um gemeinsam mit der Bevölkerung seine Heimat wieder aufzubauen. Ein erheblicher Teil der vor dem Krieg geflüchteten Bosniaken ist auch 2021 noch nicht zurückgekehrt oder erneut geflohen – diesmal vor der Armut. Deshalb hat sich Irvin entschlossen, eine Perspektive zu schaffen: nachhaltigen Tourismus. Vor dem Krieg war Srebrenica ein beliebter Kurort mit unterschiedlichen Heilwasserquellen. Auch die gebirgige Natur mit der Drina-Schlucht und das mittelalterliche Kulturerbe der Region – Burgen und Nekropolen – bieten vielfältige Ressourcen.

Mehr über die bosnischen NaturFreunde und ihr Projekt City of Hope:
www.srebrenicahope.wordpress.com srebrenicahope@gmail.com

Nachhaltiger Tourismus gegen die Armut

Eine zufällige Begegnung mit italienischen NaturFreund*innen führte zur Gründung der bosnischen Prijatelji Prirode Oaza Mira (deutsch: Freunde der Natur, Oase des Friedens), die mittlerweile Partner ohne Stimmrecht der NaturFreunde Internationale (NFI) sind. Die NaturFreunde haben Wanderrouten  zusammengestellt und bieten betreute Wandertouren an, zudem Besuche der Gedenkstätte und Unterkünfte.

Dabei wird eng mit Einheimischen zusammengearbeitet: Man kann nicht nur bei Gastfamilien in Srebrenica oder den umliegenden Dörfern wohnen, sondern auch an ihren Mahlzeiten und Konzerten teilnehmen. Und das NaturFreunde-Konzept ist erfolgreich: Die Gedenkstätte zählte zwar viele Besucher*innen, doch diese blieben bisher häufig weder zum Essen noch zur Übernachtung in Srebrenica. 2019 wurden bereits 4.000 Besucher*innen verzeichnen, von denen etwa die Hälfte auch in der Region übernachtet hat. Zurzeit baut man in einem Tal unweit von Srebrenica ein kleines Urlaubsdorf nach traditioneller Bauart, das in Zukunft auch ein Gemeinschaftsgebäude und ein Freilufttheater umfassen soll. In Ferienlagern sollen hier auch einkommensschwächeren Kindern – zum Beispiel Waisenkindern – ein Urlaub ermöglicht werden.

Der Bosnienkrieg (1992–1995) gilt als der brutalste Konflikt der Balkankriege, die den Zerfall Jugoslawiens begleiteten. Erinnert werden insbesondere die jahrelange Belagerung von Sarajevo sowie das Massaker in der UNO-Schutzzone Srebrenica, welches von niederländischen Blauhelmen nicht verhindert werden konnte. Dort wurden mehr als 8.000 Jungen und Männer zwischen 13 und 78 Jahren umgebracht, im Bosnienkrieg insgesamt etwa 100.000 Menschen.

Des Weiteren wird eine Wassermühle gebaut, die nicht nur Strom erzeugen, sondern auch als gemeinsame Mehlmühle für die Region dienen soll. Die niederländischen NaturFreunde haben sich zwischenzeitlich dazu entschieden, den Bau dieser Mühle zu unterstützen. Die Tätigkeiten der bosnischen NaturFreunde werden der Region nicht nur wirtschaftlich helfen, sondern ebenfalls eine Brücke zwischen den Bosniaken und der Außenwelt bilden. Man begrüßt jährlich viele Freiwillige, die nicht nur im Projekt selber aushelfen, sondern sich auch dafür einsetzen, die Region aufzubauen, indem sie Müll sammeln, Wege ausbessern oder Bäuer*innen bei der Arbeit unterstützen.

Man fühlt sich im Stich gelassen

Nach einer Woche im Tal und vielen Exkursionen und Begegnungen wandere ich mit Irvin zurück nach Srebrenica. Wir wollen auf den Bauernmarkt im benachbarten Bratunac und danach zur Gedenkstätte. Doch soweit kommt es nicht. Während wir auf einer Terrasse etwas essen, gesellt sich Bernis zu uns, ein Bekannter von Irvin. Verschmitzt ahmt er einen gestikulierenden Italiener nach, setzt sich mit seinem Eis zu uns und fragt mich heiter, ob ich auch Italiener sei. Ich bin allerdings Niederländer. Wie vom Blitz getroffen verzieht sich sein Gesicht: „Ich hasse Niederländer.“

Die Luft zwischen uns zittert. Er fügt kühl hinzu: „Vielleicht nicht die Niederländer persönlich, die kenne ich nicht, aber trotzdem.“ Er legt los, frisch von der Leber weg. Er hasse das, was sie vertreten. Die Politiker. Die Soldaten. Die Heuchler und Verräter. In der Region und vor allem unter dem bosniakischen Teil der Bevölkerung ist das Vertrauen in Politiker*innen, Hilfsorganisationen, die internationale Gemeinschaft oder auch die westliche Welt an sich nicht sonderlich groß. Man fühlt sich im Stich gelassen – nicht nur während des Krieges, sondern auch jetzt noch. Es wurden viele Millionen an Hilfsgeldern überwiesen, doch die Meinung ist weitverbreitet, dass dieses Geld nur den Serben zugutegekommen sei. Viele Mitglieder von Bernis' Familie sind damals ermordet worden, seine Kindheit war von Armut geprägt. Meine Nationalität scheint ihn unvorbereitet erwischt zu haben und sein Zorn daher zu stammen. Vielleicht fühlt er sich in seiner Verletzlichkeit bloßgestellt und reagiert deswegen so heftig. Er weiß allerdings, wovon er redet, denn er hat sich mit der Geschichte auseinandergesetzt. Er hat für unterschiedliche NGOs und auch für die NaturFreunde gearbeitet.

Er redet und ich höre zu. Tatsächlich habe ich Verständnis für seine Gefühle, was ihn zu überraschen scheint. Unser Gespräch wird allmählich entspannter und am Ende besteht er darauf, uns zum Essen einzuladen und sogar noch zur Gedenkstätte zu fahren. Unterwegs plaudern wir über seine Reisen in die Niederlande. Während er uns aussteigen lässt, schaut er mir jedoch noch einmal ernsten Blickes in die Augen: „Erzähle meine Geschichte weiter.“

Das Museum der Gedenkstätte hat schon zu. Mit Irvin betrete ich den Friedhof. Hier liegen einige von Irvins Cousins und sein Onkel. Sein Vater ist immer noch verschollen.

Fonger Huisman