„Stille Nacht und andere Kampflieder“

Fahrtenbuch der NaturFreunde Berlin-Lankwitz von 1923
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Berlin in den 1920er-Jahren: Tausende streunen durch die Arbeiterviertel auf der Suche nach einem Tagelohn, einem Stück Brot, einer Schlafgelegenheit. Zur gleichen Zeit erleben die NaturFreunde ihren höchsten Mitgliederstand in der Weimarer Republik. Einem kürzlich wieder entdeckten Fahrtenbuch verdanken wir diesen Einblick in die damalige Lebenswelt junger NaturFreunde aus Berlin-Lankwitz. Ein Walter Bahras berichtet darin von einer Weihnachtsfahrt im Jahr 1923 in das ehemalige Naturfreundehaus Eisenhammer in der Dübener Heide bei Eilenburg. Die NATURFREUNDiN präsentiert einen leicht editierten Ausschnitt.

"Der Zug war total überfüllt, die Hälfte der Reisenden mußte zurückbleiben. Eine halbe Minute vor Abfahrt entdeckte Pudding ein leeres Bremserhaus. Wir alle drei mit Emmas Schlitten hinein, da die Scheiben kaputt waren, kam Schnee auf unsere Köpfe. Mit einer Zeltbahn über uns und einer Decke auf unsern Knien ging’s bis Luckenwalde. In Wittenberg war unser Anschluß schon fort. Mit Eisbeinen gingen wir zur Jugendherberge. Da die aber geschlossen war, gingen Pudding und ich zur Sipo-Wache (Sipo: Sicherheitspolizei), die uns an die Herberge „Zur Heimat“ verwies. Emma durfte dort nicht schlafen, deshalb gingen wir zum Restaurant „Zur Sonne“. Zwei Mark pro Neese war zu teuer; also gingen wir zurück zum Bahnhof in den Wartesaal.

Wir hatten jetzt genügend Zeit zum Abendbrot, da unser Zug erst Sonntagvormittag um 10:04 Uhr fuhr. Also in 13 Stunden. Nach dem Essen klampften wir und sangen. Pudding und ich wuschen uns mit Schnee, danach sangen und klampften wir wieder. Um 9:00 Uhr kam plötzlich Beule. Den Wartesaal verließen wir mit dem Anti-Sauf-Lied: Wir fordern das Alkohol-Verbot.

Ab Söllichau zwei Stunden Fußmarsch: Unsere Strümpfe waren total durchnäßt. Der Heimwart erkannte mich von der Walze wieder. Wir schliefen mit ihm zusammen in Zimmer 2. Fünf Mann in vier Betten. Ich stand als Erster auf und holte Waschwasser vom Brunnen. So langsam krochen dann auch Beule, Pudding und Emma aus dem Bett. Zum Mittag kochte Pudding Salzkartoffel mit brauner Sauce. Abends eine feine Schlummerstunde. Um 1/2 9:00 Uhr war eine ernste Weihnachtsfeier. Wir sangen „Stille Nacht“ und andere Kampflieder. Dazu ernste Rezitationen.

Heute kochte Beule Mittag. Kartoffelsuppe. Wir haben heute schon um 1:00 Uhr Mittag gegessen, und weil wir bald wieder Hunger hatten, kochte ich abends noch Reis und Nudeln zusammen. Wenn wir Zucker gehabt hätten, hätte es gar nicht besser schmecken können. Leider mußten wir es stehen lassen, denn jetzt fand die eigentliche Sonnwendfeier statt. Um 1/2 8:00 Uhr begann die Feier mit der Begrüßung vom Heimwart Hans. Nach einigen Rezitationen und Klampfenstücken der Hallenser sangen wir alle „Brüder zur Sonne“. Bei dem darauffolgenden Teil kamen alle Anwesenden auf ihre Kosten. Auch wir ließen es an heiteren Darbietungen nicht fehlen; sodaß oftmals der Ruf ertönte: Berliner, ihr seid „knorke“. Um 11:00 Uhr hatte aber alles ein Ende und nun konnten wir in Ruhe unser wartendes Essen verdrücken. Beule und ich bekamen von einem Leipziger noch Zucker drauf."

Was aus dem Bericht nicht hervorgeht: Emma und „Pudding“ sind ein Paar. Pudding heißt in Wirklichkeit Helmut Damerius und Emma Zadach wird bald auch Damerius heißen. Beide erfahren, obwohl sich ihre Wege im Jahr 1927 wieder trennen werden, besondere Schicksale.

Zwei Schicksale im 20. Jahrhundert

Emma Damerius (später Koenen) wurde 1903 geboren, wuchs in Berlin auf und engagierte sich bis 1923 bei den NaturFreunden. 1924 wurde sie Mitglied der KPD und 1933 als Abgeordnete in den preußischen Landtag gewählt, ging dann in den Untergrund und leistete Widerstand. Sie floh in die Sowjetunion, wurde 1935 Mitglied des Frauensekretariats der Komintern, arbeitete in deren Auftrag illegal in·der Schweiz und schließlich in Großbritannien. 1945 kehrte sie nach Deutschland zurück und wurde Vorsitzende des „Demokratischen Frauenbund Deutschlands“ (DFD). Doch dann war ihre Karriere vorbei: In der DDR regierte Stalins Geist rigider als anderswo. Sogenannte „Westemigranten“ wurden als unzuverlässig eingestuft und viele von ihnen in Schauprozessen als „Westagenten“ abgeurteilt. Um diesem Schicksal zu entgehen, trat sie „aus gesundheitlichen Gründen“ zurück. Sie starb 1987 in Berlin.

Das KPD-Mitglied Helmut (Pudding) Damerius, geboren 1905, leitete die Agitpropgruppe „Kolonne links“. Als er mit dieser 1931 für einen Monat die Sowjetunion bereiste, blieb er und wurde Sowjetbürger. 1938 verhaftete ihn der sowjetische Geheimdienst wegen angeblicher Agitation für die Hitlerjugend und Damerius wurde zur Lagerhaft verurteilt. Erst nach Stalins Tod wurde das Urteil 1955 aufgehoben. 1956 durfte er in die DDR ausreisen mit der strafbewehrten Auflage, über seine Zeit in der Sowjetunion nicht zu berichten. Heimlich schrieb Damerius Anfang der Achtziger Jahre ein Buch über seine Sowjetzeit und übergab dieses 1982 dem Aufbau-Verlag in der Hoffnung, es in der DDR veröffentlichen zu können. Doch erst 1990, fünf Jahre nach seinem Tod, erschien der Titel „Unter falscher Anschuldigung – 18 Jahre in Taiga und Steppe“.

Hans-Gerd Marian
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in NATURFREUNDiN 4-2015