Vom Begrenzen und Ausgrenzen

Ein Essay von Nick Reimer

Cover der NATURFREUNDiN 2-16
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Biblisch gesprochen schuf Gott die Grenzen: Den Tag begrenzte er mit der Nacht, das Land mit dem Wasser, das Leben mit dem Tod. Und er schuf die Grenz-Verletzung: Mit ihrem Griff zum verbotenen Apfel hatten Adam und Eva die göttliche Grenze überschritten. Seit diesem „Sündenfall“ gilt ein grenzenlos freies Leben als das Ideal. Dummerweise wird uns das nie gelingen.

Das liegt zunächst an ganz bestimmten, an den natürlichen Grenzen: Natürlich gibt es Tricks, die Schwerkraft zu überwinden. Das ändert aber nichts daran, dass die Gravitation den Menschen immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Es gibt zeitliche Grenzen, also ein Kontinuum der Zeit, das sich durch ein Anfang und ein Ende beschreiben lässt. „Ruhe sanft“, steht nach Ablauf auf dem Grabstein. Es gibt biologische Grenzen: Ein Mensch wird sich niemals mit einem Pferd vermehren, auch wenn er es noch so liebt. Zwar gibt es Erbgutversuche im Labor. Prinzipiell haben wir aber gelernt, die Grenzen der Natur zu akzeptieren.

Schwieriger sind jene Grenzen, die sich der Mensch selbst gegeben hat: territoriale Markierungen beispielsweise, die private Besitzverhältnisse anzeigen. „Mein Apfelbaum in meinem Garten“ illustriert die Schwierigkeiten im kleinen Grenzverkehr. Im Sommer stört sich der Nachbar an den überhängenden Ästen, weil sie sein Grundstück verschatten. Darf er sie abschneiden? Darf er im Herbst die auf sein Grundstück überhängenden Äpfel von meinem Apfelbaum pflücken? Immer wieder müssen Juristen über solch territoriale Grenzkonflikte urteilen. Erstaunlicherweise kommen sie in Bremen zu ganz anderen Ergebnissen als beispielsweise im Schwabenland.

Die territoriale Grenzziehung war oft umkämpft, vor allem dann, wenn sie die Machtbefugnis politischer Herrschaftsverbände festsetzte. Staatsgrenzen zu verschieben, um darauf ein „Tausendjähriges Reich“ zu bauen, das ging zum Beispiel als „Zeit des Nationalsozialismus“ in die internationale Geschichtsschreibung ein.

Und es führt uns zu den schwierigsten Grenzen, die es gibt: moralische Grenzen, die das Zusammenleben verbindlich machen. Die Publizistin Hannah Arendt beschrieb in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“, wie SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann sich im Jahr 1961 für die Judenvergasung rechtfertigte: Er habe nur seine Pflicht erfüllt, der Moral der Zeit gedient.

Grenzen müssen erlernt werden

Eine der Grundlagen solcher moralischer Grenzen ist die Ich-Grenze, mittels derer Personengruppen ihre Abgrenzung zu anderen Personengruppen bestimmen. „Ich Deutscher – du Asylant“ bedeutet dabei nicht, dass die Mutter nicht aus Afghanistan stammen darf. Es bedeutet zunächst lediglich, dass der eine einen deutschen Pass besitzt, der andere aber nicht. Beide können eine afghanische Mutter haben. Die Ich-Grenze definiert sich an dieser Stelle nicht über die Herkunft, sondern über die Zugehörigkeit zum bundesdeutschen Staatswesen.

Entscheidend für diese Ich-Grenze sind die Definitionen. Das latainische „definitio“ steckt in diesem Wort, was „Abgrenzung“ bedeutet. Manche dieser Abgrenzungen sind einfach zu treffen, beispielsweise die Freizeit am Wochenende gegenüber der Arbeitszeit in der Woche. Andere sind nur durch zusätzliche Kriterien zu definieren: Ist die zusätzliche Arbeit in der Freizeit Selbstausbeutung? Notwendig fürs finanzielle Überleben? Flucht vor dem Familienalltag?

Es gibt vielfältige Formen, die Abgrenzung zu manifestieren, anfassbar, ja sichtbar zu machen: der Fan-Schal einer Fußballmannschaft zum Beispiel, das Parteibuch oder der Ehering. Dahinter steckt der Wunsch nach Zugehörigkeit, der Wunsch nach Verlässlichkeit und Beistand. Andere sichtbare Formen der Abgrenzung dagegen können hierzulande auch heute noch stigmatisieren, im schlimmsten Falle gefährlich sein:  sich in der Öffentlichkeit küssende Männer etwa oder Juden, die auf der Straße die Kippa tragen.

Das liegt daran, dass die Grenzen – und mit ihnen die Abgrenzung – erlernt werden müssen. Homosexualität galt vor 50 Jahren noch als Krankheit, die heilbar ist. Bibel, Tora und Koran behandeln gleichgeschlechtliche Liebe als Sünde, in Teilen Afrikas und der arabischen Welt droht Lesben und Schwulen heute noch die Todesstrafe. Natürlich wissen wir, dass es in der Bundesrepublik mittlerweile gesetzliche Regelungen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften gibt. Wenn sich aber zwei Männer wild auf dem Bürgersteig knutschen – die Grenzen der Zumutbarkeit sind da bei manchen schnell erreicht.

Soziale und individuelle Konstruktionen

Zum Problem wird die kollektive Abgrenzung, wenn sie undurchlässig wird – und sich in manifestierte Ausgrenzung verändert: Die verzweifelten Menschen am griechischen Grenzzaun könnten mit der territorialen Abgrenzung und ihren Regeln leben, wenn sie nur durchlässig für sie wäre. Dadurch, dass der Stacheldraht die Grenze aber endgültig macht, sind sie in ihrer Existenz bedroht. Eines der Grundmuster der islamistischen Attentäter in Brüssel und Paris war diese manifestierte Ausgrenzung: Ohne Perspektive im Vorort gefangen, radikalisierten sie sich, um sich gegen die Ausgrenzung zu wehren – indem sie die Grenzen des westlichen Zusammenlebens angriffenfen, von denen sie sich ausgegrenzt fühlten. Undurchlässige Ausgrenzung setzt jenes Aggressionspotenzial frei, das jedem Menschen inne wohnt. Und das ist in der Lage, die Grenze, die das menschliche Zusammenleben eigentlich ermöglichen sollte, zu zerstören.

Deshalb ist es unerlässlich, die kollektiven moralischen (und faktischen) Grenzen immer wieder zu prüfen – und den Gegebenheiten anzupassen. Logische Grenzen sind akzeptabel, unlogische verursachen Widerstand.

Grenzen sind soziale und individuelle Konstruktionen: Eben weil es unter den 7,4 Milliarden Menschen keinen gibt, der dem anderen gleicht, werden die Grenzen 7,4-milliardenmal unterschiedlich wahrgenommen. Grenzüberschreitungen sind deshalb zwangsläufig, schließlich ist zumindest jede moralische Grenze auch eine Interpretationsfrage. Deshalb sind Instanzen notwendig, die gesellschaftliche Grenzen bewerten, festschreiben, verändern und überwachen.

Vor 110 Jahren setzte sich in der deutschen Gesellschaft der Gedanke durch, dass Reiche stärker zur Finanzierung des Gemeinwohls herangezogen werden sollen. Reichskanzler Bernhard von Bülow führte deshalb 1906 die Erbschaftssteuer ein. Wer dagegen verstößt, wird vom Finanzgericht betraft.

Trotzdem hat es unzählige Versuche gegeben, die Steuer zu umgehen, auch grenzenlose, wie zuletzt die in den „Panama Papers“ bekanntgewordenen Briefkastenfirmen in Zentralamerika zeigten. Die SPD würde nun gern das Erbschaftssteuergesetz ändern und an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anpassen.

Andererseits sind Grenzüberschreitungen die Grundlage unseres heutigen Lebens: Hätten sich Menschen wie etwa Nikolaus Kopernikus im 16. Jahrhundert mit den Grenzen im Denken zufrieden gegeben, wäre die Erde heute noch eine Scheibe. Das Verschieben individueller Leistungsgrenzen hat immer wieder zum Fortschritt geführt, beim Luftfahrtpionier Otto Lilienthal genauso wie bei Mahatma Gandhi. Und auch zu einer gewissen Grenzenlosigkeit: Dank Internet ist heute jeder Ort der Welt mit jedem verbunden, jeder Gedanke kann veröffentlicht, jede Diskussion geführt werden.

Ist es dann sinnvoll, die Staatsgrenze vor der Haustür wieder aufzubauen? Die Historikerin Susanne Rau zum Beispiel sagt, Grenzen seien immer dann sinnvoll, wenn sie etwas zum Wohl der Menschen beitragen – wenn sie Schutz bieten oder in einem positiven Sinne gemeinschaftsstiftend sind.

Ist der Grenzzaun von Idomeni gemeinschaftsstiftend? Die Beschäftigung mit den Grenzen ist die emotionalste Beschäftigung des Menschen: Es geht um Markierungen, mittels derer Personengruppen ihr Selbstverständnis auszudrücken versuchen. Es geht um moralische Werte, die sich durch die Kostitution der „Ich-Grenze“ manifestiert. Es geht um Grenzverschiebungen, damit der Einzelne individuelle Freiheit erlangt. Deshalb ist es wichtig, sich mit Grenzen zu befassen – und es ist fahrlässig zu verlangen, sie einfach „dicht“ zu machen.

Nick Reimer
Dieser Essay erschien zuerst in NATURFREUNDiN 2-16