Warum Umweltpolitik jetzt zur Gesellschaftspolitik werden muss

Michael Müller: Unser Wachstumsmodell ist unvereinbar mit dem Menschenschutz

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Die Natur schlägt mit aller Härte zurück, weil die Dimension der ökologischen Herausforderungen bis heute zu wenig verstanden wird. Immer noch wird stattdessen dem alten Schneller, Höher und Weiter angehangen, immer noch werden Warnungen nicht ernst genommen, immer noch wird das Notwendige nicht getan. Auch deshalb mussten bei der Hochwasserkatastrophe im Juli so viele Menschen sterben.

Große Gefahren von neuer Tragweite bauen sich auf. Weil das Klimasystem der Erde eine lange Anpassungsfrist hat, können die globalen Umweltgefahren in den nächsten  Jahren nicht mehr gestoppt, sondern höchstens verlangsamt werden. Kipppunkte drohen, an denen sich die Erderhitzung verselbstständigt. Die Verbindung von sozialen,  ökonomischen und ökologischen Probleme erzeugen neue Synergismen mit unabsehbaren Folgen. Und weil die Naturzerstörungen in Ursachen und Auswirkungen tragisch ungerecht verteil sind, wird die soziale Spaltung zunehmen. Deshalb ist es allerhöchste Zeit für eine neue Politik der ökologischen Modernisierung, die zur Gesellschaftspolitik wird. Ich möchte sie hier skizzieren.

naturfreundin_3-21-1_titel_0.jpgDie Septemberausgabe 2021 des NaturFreunde-Mitgliedermagazins NATURFREUNDiN hat sich in der Titelgeschichte mit dem Leben in der Klimakrise beschäftigt.

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Die moderne Umweltpolitik nahm vor mehr als 50 Jahre ihren Anfang. Sie begann mit „Der stille Tod“ von Rachel Carson, die die weltweite Ausbreitung von DDT nachwies, der Studie zu den „Grenzen des Wachstums“, in der Dennis Meadows die Endlichkeit der Ressourcen aufzeigte, dem Kongress zur Qualität des Lebens der IG Metall und auch dem Manifest „Ende oder Wende“ von Erhard Eppler, das die Machbarkeit des Notwendigen aufzeigte. Anfang der 1970er-Jahre wurden erste Umweltministerien gegründet, nahm das Umweltbüro der Vereinten Nationen seine Arbeit auf und verabschiedete die Bundesregierung unter Willy Brandt das erste Umweltschutzprogramm, in dem drei zentrale Grundprinzipien festgelegt wurden: Verursacherprinzip, Vorsorgeprinzip und Konsistenzprinzip.

Bis dahin wurde in Deutschland die Debatte über den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen überwiegend von konservativen Naturschützer*innen dominiert. Auch die politische Linke sah die Naturverhältnisse lange Zeit als „Nebenwiderspruch“ an, der hinter dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit zurückzustehen hätte. Das änderte sich mit der Auseinandersetzung um die Atomenergie, die Umweltbewegung begann eine politische Rolle zu spielen. Dennoch wurde der Natur- und Umweltschutz nicht in erster Linie als Ausgangspunkt gesellschaftspolitischer Strukturreformen gesehen, sondern als Ergänzung.

Der Mensch wird zur stärksten Naturgewalt

Obwohl die ökologischen Herausforderungen weiter ins Zentrum rückten, werden die gesellschaftlichen Zusammenhänge immer noch unzulänglich verstanden. Dabei geht es mittlerweile um nicht weniger als die Unvereinbarkeit des vorherrschenden Wachstumsmodells mit dem Natur- und Menschenschutz. Das zeigt beispielsweise eine Studie, die zum UN-Erdgipfel 1992 in Rio de Janeiro veröffentlicht wurde. Danach entfielen von den globalen Schädigungen am Erdsystem in den letzten 500 Jahren mindestens 50 Prozent auf die Zeit nach 1950, also auf damals nur vier Jahrzehnte.

In den 1950er-Jahren begann die große Beschleunigung, die zu globalen Schädigungen im Erdsystem führte. Seitdem ist der Mensch gleichsam zur stärksten Naturgewalt aufgestiegen. Denn in der Folge von industrieller Produktion und modularem Massenkonsum unterscheidet sich die heutige wirtschaftlich-technische Eingriffstiefe in das Ökosystem grundlegend von traditionellen Wirtschaftsformen. Heute liegt die Beanspruchung um das Hundertfache höher. Zudem ist in den Industrieländern die Ressourcennutzung pro Kopf um das Zwanzigfache angestiegen und die Weltbevölkerung hat sich in den letzten 250 Jahren nahezu verzehnfacht.

Der Mainzer Atmosphärenforscher und Nobelpreisträger Paul Crutzen beschrieb die Eskalation der menschlichen Eingriffe in die Natur als „Geologie der Menschheit“. Seine Konsequenz war die Forderung, die heutige geologische Erdepoche Anthropozän zu nennen – Menschenzeit. So wollte er die Herausforderungen deutlich machen, vor denen wir heute stehen. Die Weltgesellschaft der Geologie stimmte dem Vorschlag zu. Das Anthropozän löst das Holozän ab, das in den letzten 12.000 Jahren mit seinem gemäßigten Klima die Entwicklung der menschlichen Zivilisation auf unserem Planeten gefördert hat. Aber die Erde, so wie sie zu unserer Heimat wurde, existiert heute immer weniger. Ich möchte einige Beispiele nennen:

▸Das Klimasystem verliert seine Stabilität. Die Konzentration von Kohlendioxid erreicht bereits 420 parts per million (ppm), sodass um das Jahr 2045 eine globale Erwärmung von 1,5 Grad Celsius erreicht werden wird. Kipppunkte rücken näher, an denen sich die weitere Entwicklung dramatisch beschleunigt: Thermohaline Strömungen brechen zusammen, Permafrost-Gebiete, die Kohlenstoff gebunden haben, tauen auf, Regenwälder trocknen aus, Korallenriffe sterben ab. 

▸In drei von neun Dimensionen des Erdsystems, die für das menschliche Leben eine essenzielle Bedeutung haben – Klimasystem, Stickstoffkreislauf und Biodiversität – werden planetarische Grenzen überschritten. Bei Süßwasserreserven, Oberflächenwasser und Bodenfruchtbarkeit sind diese Grenzen erreicht.

▸20.000 bis 50.000 Quadratkilometer fruchtbarer Landfläche gehen jedes Jahr durch Bodenerosion verloren. Die Aussterberate von Tier- und Pflanzenarten liegt um das 100- bis 1.000-fache höher als im natürlichen Prozess. Der ökologische Fußabdruck des Menschen ist so tief, dass der Welterschöpfungstag, an dem die im Jahr reproduzierte Biomasse verbraucht ist, bereits Anfang August  erreicht wird. Vor 20 Jahren lag er noch am 22. September.

Verteilungskonflikte als Folge von Umwelt- und Naturzerstörung

Im Anthropozän muss mit der Allgegenwart des technokratischen Wachstumsparadigmas gebrochen und die Verherrlichung des Marktes beendet werden. Andernfalls wird sich die soziale Spaltung in den Gesellschaften ebenso vertiefen wie zwischen dem globalen Norden und Süden. Während sich die Natur veränderten Bedingungen anpassen kann, ist der Mensch dazu nur begrenzt in der Lage. Und auch diese Anpassungsfähigkeit ist global höchst ungleich verteilt.

Die Gefahr ist groß, dass die globale Umweltkrise die Spaltung zwischen Arm und Reich dramatisch vertieft und Gewalt auslöst. An dieser Weichenstellung reicht eine grüne Technokratie nicht aus. Notwendig sind tief greifende Strukturreformen in Wirtschaft und Gesellschaft, die von der Endlichkeit des Erdsystems für menschliches Leben   ausgehen. Der Soziologe Norbert Elias hat den Prozess der Zivilisation als „soziale Verregelung von Gewalt“ beschrieben. Heute muss es zu einer sozial-ökologischen  Verregelung von Gewalt kommen, da sich die Verteilungskonflikte sonst in den nächsten Jahrzehnten dramatisch zuspitzen werden. So verstanden stellt die Umwelt- und Naturzerstörung die Gestaltungs- und Verteilungsfrage. Gleichzeitig geht es um Friedenspolitik. Fünf Punkte empfinde ich dabei von zentraler Bedeutung:

1. Die Natur muss als Mitwelt verstanden werden, wir sind auf die Stabilität der Ökosysteme angewiesen. Natur darf nicht länger zubereitet, isoliert oder selektiv gesehen  werden, denn das Wachsen, Nutzen, Verbrauchen und Wegwerfen gerät an Grenzen. Aus Wachstum muss eine nachhaltige Entwicklung werden, die die Ökologie in die Wirtschaftsprozesse von Anfang an integriert. Aus dem bisherigen technischen Irrtumslernen muss eine gezielte ökologische Innovations- und Infrastrukturpolitik werden, die dem Prinzip Verantwortung gerecht wird, wie es der Philosoph Hans Jonas definiert hat.

2. Die sozial-ökologische Gestaltung der Transformation heißt für uns, die analytische Spur wieder aufzunehmen, die der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi einst legte, um die Menschheit aus der Geiselhaft der Profit- und Expansionsinteressen offener Märkte zu befreien. Deren neoliberale Utopie sieht Arbeit, Natur und Geld nur als Waren, die vom Markt geregelt werden, ohne Rückbindung an Lebenswelt und Öko-Systeme. Die „Entbettung“ der Ökonomie aus gesellschaftlichen Bindungen muss politisch gestoppt  werden, damit der Mensch nicht erniedrigt, die Natur nicht zerstört und die Wirtschaft nicht krisenanfällig wird.

3. Die Beendigung der Naturvergessenheit darf nicht zu einer neuer Menschenvergessenheit führen. Um in Frieden und Freiheit zu überleben, darf es keine hochgesicherten grünen Oasen des Wohlstands gegen eine zunehmend unwirtliche Welt geben. Von daher darf der soziale Ausgleich im ökologischen Umbauprozess nicht kompensatorisch sein, sondern muss strukturell und dauerhaft angelegt werden. Das erfordert eine gerechtere Verteilung in den Primärstrukturen, was vor allem die Einkommens-, Lohn- und Vermögensverteilung betrifft.

4. Notwendig ist eine neue Idee von Fortschritt für eine freie, gerechte und solidarische Welt, die von der Endlichkeit der Naturgüter für menschliches Leben ausgeht und die  Einhaltung planetarischer Grenzen zum Maßstab macht. Das erfordert eine soziale und ökologische Weltinnenpolitik, die auch eine Regionalisierung der Globalisierung zum Ziel hat, um die politische Gestaltungsfähigkeit zu stärken und neue Gleichgewichte zu schaffen.

5. Wir brauchen mehr Demokratie und Partizipation in allen gesellschaftlichen Bereichen. Denn die Befreiung des Menschen aus Dogmen, Abhängigkeiten und Zwängen ist auch heute von zentraler Bedeutung, um den Menschen die Gestaltungsmacht über die Zukunft zu geben.

Das Anthropozän muss nicht zum Niedergang der menschlichen Zivilisation führen. Was der Mensch angerichtet hat, kann der Mensch wahrscheinlich auch wieder verändern. Aber wir brauchen eine Weiterentwicklung der unvollendeten europäischen Moderne, deren Ausgangs- und Zielpunkt die Emanzipationsidee war. Dafür haben im 16. Jahrhundert die europäischen Rationalisten die Weichen gestellt, insbesondere durch die Hinwendung zu Aufklärung, Vernunft und den Naturwissenschaften. Allerdings war die Fortschrittsidee auch geprägt von Naturvergessenheit und Ungleichheit. Diese Defizite wurden durch die soziale Emanzipation, für die die Arbeiter*innenbewegung kämpft, einerseits abgemildert, andererseits aber auch auf die Entfaltung der Produktivkräfte zugespitzt, weil so der Verteilungsspielraum erweitert wurde. Das kann heute nicht mehr funktionieren.

Die Grundidee der Befreiung und Emanzipation muss wieder ins Zentrum rücken und die Gerechtigkeitsfrage regional, national und global neu beantwortet werden, ohne die Fortschritte der europäischen Moderne zu verspielen.

Michael Müller
Bundesvorsitzender NaturFreunde Deutschlands