Gemeinsam für ein nachhaltiges Menschenbild

Interview mit Prof. Dr. Kai Niebert, Präsident des Deutschen Naturschutzrings (DNR) und Bundesvorstandsmitglied der NaturFreunde Deutschlands

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DOSB-Informationsdienstes SPORT SCHÜTZT UMWELT: Dieser Sommer hat nicht nur in Deutschland gezeigt, dass mit stabilen Klimaverhältnissen nicht mehr zu rechnen ist. In der Politik hat sich deshalb neben dem Ziel, den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren und zu vermeiden, inzwischen der Begriff der „Anpassung“ an den Klimawandel etabliert. Wie vertragen sich Konzepte der „Anpassung“ mit solchen eines nachhaltigen Wirtschaftens und Lebens?

Kai Niebert: Die Tragfähigkeit unseres Planeten ist erreicht und in vielerlei Hinsicht bereits überschritten. Das merken auch Sportler schmerzlich, wenn Bäche zu reißenden Strömen werden, die alles weg reißen, was am Ufer steht: Häuser, Straßen und Wege, Freizeiteinrichtungen – oft das Lebenswerk von Generationen. Jahre- oder monatelang mit hohem ehrenamtlichem Einsatz geplante Veranstaltungen müssen abgesagt werden, weil immer häufiger schwere Unwetter drohen, die mit ihren ganz unberechenbaren Auswirkungen, Zerstörung und Leid bringen können. Doch nicht nur der Klimawandel, auch die viel zu große Belastung von Böden und Gewässern mit Nitraten, Pestizid- und Medikamentenrückstanden, zu hohe Gehalte an Feinstäuben und Schadstoffen in der Luft, das und vieles mehr macht uns allen, dem Klima, der biologischen Vielfalt und auch Sportlern schwer zu schaffen.

Um künftige Schäden zu vermeiden, zumindest aber einzugrenzen, müssen wir eine zukunftsfähige, nachhaltige Wirtschaftsweise etablieren. Und dennoch kommen wir um eine Anpassung an den Klimawandel nicht umhin: Seit Beginn der Industrialisierung haben wir das Klima bereits um ein Grad erhöht. Außerdem wirkt das Kohlendioxid in der Luft erst mit einer Zeitverzögerung von etwa 30 Jahren. Das heißt, selbst wenn wir heute aufhören, Klimagase zu emittieren, steht die Erwärmung der nächsten 30 Jahren schon fest. Wir kommen also nicht umhin, uns an Klimaextreme anzupassen.

Einige positive Maßnahmen zeigen Wege auf: Zum Beispiel bewirken Renaturierungsprojekte von Flüssen und Flussauen, durch die sich das Wasser wieder natürlich ausbreiten kann, sichtbare Erfolge beim Hochwasserschutz. Die Begrünung von Städten sind wichtige Maßnahmen gegen die Überwärmung in Hitzeperioden und sorgen für die Erhaltung städtischer Umwelt- und Lebensqualität. Die Etablierung des europäischen Netzes von Schutzgebieten bildet Überlebensräume für arg bedrängte Arten der Agrarlandschaft. Der Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs und moderne Konzepte der Mobilität sorgen für eine umweltschonende Erreichbarkeit beruflicher und privater Ziele. Das und vieles mehr sind wichtige Schritte, doch deren flächendeckende Umsetzung hinkt weit hinter dem notwendigen Bedarf hinterher!

Die Vereinten Nationen haben im letzten Jahr globale Nachhaltigkeitsziele, die so genannten Sustainable Development Goals (SDG) verabschiedet. Darin verpflichten sich die Staaten – unter anderem auch Deutschland – Probleme wie Klimaschutz, Meeresschutz, gesunde Ernährung, aber auch die Beseitigung von Armut und Ungleichheit national wie international  bis 2030 gelöst zu haben. Aus Sicht des DNR und seiner Mitgliedsorganisationen sind dafür in zentralen politischen Handlungsfeldern grundlegend andere Weichenstellungen als bisher erforderlich. Deutschland muss sich seiner Verantwortung für nachhaltige Entwicklung stellen und die 2030-Agenda im Sinne ihrer fünf Prinzipien – Menschen, Planet, Wohlstand, Frieden, Partnerschaft – umsetzen.

Sie fordern ein besseres gesellschaftliches Verständnis von Nachhaltigkeit und kritisieren das permanente Streben nach wirtschaftlichem Wachstum. Gibt es aus Ihrer Sicht eine Alternative dazu?

Man muss kein Naturwissenschaftler sein, um zu erkennen, dass ein endloses Wachstum in einer begrenzten Welt nicht möglich ist. Es war unser größter Fehler, eine Idee von Nachhaltigkeit zu ak- zeptieren, in der Ökologie, Ökonomie und Soziales scheinbar gleichberechtigt nebeneinander stehen. Das vom Bundespräsidenten im letzten Jahr ausgezeichnete Konzept der Planetaren Grenzen – das sich auch zusehends zum Leitbild des DNR entwickelt – zeigt auf, dass wir nicht umhin kommen, die Erdsysteme als absolute Grenze zu nehmen.

Bei aller Wachstumsfixierung geht es zum anderen aber auch darum, sich einmal ehrlich klar zu machen: Seit Jahren sinken die Wachstumsquoten in Deutschland – wie in allen wirtschaftlich ausgewachsenen, reifen Nationen – immer mehr in Richtung Null. Wir sind derzeit schon auf dem Weg in eine Gesellschaft jenseits des Wachstums. Die Gründe sind vielfältig.

Zum demografischen Wandel kommt die Sättigung mit Konsumgütern und öffentlicher Infrastruktur – vor allem aber die Mathematik: Je höher das BIP, desto höher die absoluten Zuwächse, die nötig sind, um die Wachstumsraten auch nur konstant zu halten: Zwei Prozent von 100 sind zwei, die gleichen zwei Prozent von 100.000 aber sind 2.000. Das lässt sich nicht dauerhaft so durchhalten. Auch ohne planetare Grenzen müssen wir akzeptieren, dass das Wachstum irgendwann zu Ende ist. Sogar in Schwellenländern wie China nimmt das Wachstum langsam ab, so dass eine Wirtschaft irgendwann ausgewachsen ist.

Wir sollten uns von der Illusion verabschieden, die globalen Probleme der Gegenwart mit einer Wachstumsbeschleunigung zu bewältigen und uns einstellen auf eine Zukunft ohne ständiges, grenzenloses wirtschaftliches Wachstum. Politik sollte Wirtschaft nicht immer weiter zum Wachsen zwingen und auch nicht darauf vertrauen, dass der Wirtschaft die Befreiung vom Wachstumszwang, mal verstanden als Verzicht und mal als Bemühen um einen geringen Rohstoff- und Energieverbrauch, von allein gelingt.

Notwendig scheint eine Politik, die Verschwendung und Maßlosigkeit entmutigt und gleichzeitig Maßhalten und Nachhaltigkeit ermutigt. Einsparungen werden nur wirksam sein können, wenn wir gleichzeitig die Rahmenbedingungen für Einsparungen schaffen. Ein nachhaltiges Anthropozän braucht beides: eine ökologische Wirtschaft und die Befreiung von Wachstumszwang.

Sie sind ein Verfechter des vom Nobelpreisträger Paul Crutzen geprägten Begriffs des Anthropozäns – des Menschenzeitalters: Als Folge unseres Lebensstils heizt sich die Atmosphäre auf, werden im großen Umfang Arten vernichtet, verändern sich Landschaften und übersäuern die Meere. Dies sind alles Entwicklungen, die auch Sportlerinnen und Sportler beklagen. Der Tauchsport engagiert sich beispielsweise – auch international – für den Artenschutz und beklagt das Ausbleichen der Korallenriffe. Wie können Sportlerinnen und Sportler mithelfen, die „Menschenzeit“ zu einer nachhaltigen Epoche werden zu lassen?

Die Menschheit schreibt in der Tat derzeit Erdgeschichte: Mit stetig wachsenden und sich globalisierenden Wirtschaftstätigkeiten hat sie seit Beginn der Industrialisierung so viele neuartige Mineralien in so kurzer Zeit in Umlauf gebracht, wie es die Erde seit 2,4 Milliarden Jahren nicht erlebt hat. Die Nahrungsmittelproduktion ist heute stärker von fossilen Rohstoffen abhängig, um synthetische Dünger herzustellen, als von der Sonne. Und durch den weltweiten Warenaustausch gelangen nicht nur T-Shirts aus den Sweatshops Bangladeschs nach Europa. Auch diverse Arten überschreiten in Flugzeugen oder auf Schiffen geographische Barrieren und verändern so den Lauf der Evolution. Spätestens seit den 1950er-Jahren weisen nicht nur alle wirtschaftlichen Indikatoren, sondern auch alle Daten zur (Über-)Nutzung natürlicher Ressourcen steil nach oben, nur leicht gebremst durch kleinere und größere Wirtschaftskrisen. Dieses Phänomen ist als große Beschleunigung in die Literatur eingegangen. All dies hat uns in der Tat in eine neue geologische Epoche, die Menschenzeit, katapultiert.

Das ist besonders für uns im Sport- und Naturbereich spannend. Sprachen wir bis vor ein paar Jahren noch von den Naturnutzern und den Naturschützern, müssen wir im Anthropozän anerkennen, dass dieser Gegensatz nicht länger haltbar ist. Die dualistische Sicht einer guten Natur, die einem im Wesentlichen schlechten Menschen, inklusive seiner Kultur und Technik gegenübersteht, kann angesichts der erdsystemischen Einflüsse des Menschen auf die Natur nicht weiter aufrechterhalten werden. Auf einem  vom Menschen gestalteten Planeten werden wir alle zu Nutzern. Doch gleichzeitig müssen wir unser Bild von uns selber verändern. Nutzen darf nicht länger stören heißen. Vielmehr müssen wir uns als Gärtner begreifen, die das Erbe bewahren und den Zustand des Planeten Schritt für Schritt wieder verbessern.

Ich selber bin begeisterter Bergsteiger und ausgebildeter Wanderleiter bei den NaturFreunden – zwar kein Spitzensportler, aber für Breitensport reicht es. Gerade in der Natur können wir hier wertvolle Botschaften senden: Erstens zeigen alle Erhebungen zu Gesundheit und Wohlbefinden, dass eine intakte Natur eine äußerst wichtige Ressource für unsere Lebensqualität ist. Wenn wir die Menschen über sportliche Aktivitäten in die Natur bringen, tun wir somit nicht nur etwas für ihre körperliche Fitness, sondern für ihre mentale Gesundheit.

Zweitens werden wir Sportler auch politisch anderes Gehör finden als Naturschützer. Letztere gelten als „übliche Verdächtige“, wenn es um die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen geht. Treten wir indes gemeinsam auf, können sich hier wertvolle Allianzen für eine nachhaltige Menschenzeit bilden. Viele Natursportarten sind für die Natur zwar nicht unproblematisch, aber gerade in den letzten Jahren zeigen Natursportler, dass eine Ausübung der verschiedenen Freizeitsportarten naturverträglich gestaltet werden kann.

Drittens liefern viele Natursportler – die Taucher allen voran – mittlerweile sogar wichtige Daten für den Naturschutz. So sind sie im Monitoring der Artenvielfalt beteiligt und zeigen auf, wo eingeschleppte Arten die heimische Flora und Fauna gefährden. Hier werden Sportler häufig zu den ausgewiesenen  Naturschützern!

Der 33. Deutsche Naturschutztag will zeitgemäße Lösungen für einen erfolgreichen Natur- schutz entwickeln, die großen ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit wieder stärker auf die politische Agenda setzen. Welche Rolle kann der Sport hier einnehmen? Welche Form der Zusammenarbeit wünschen Sie sich?

Sport begeistert viele Millionen in unserem Land und weltweit. Teamgeist und soziale Verantwortung werden im Sport ganz selbstverständlich gelebt. Sportler brauchen ein gesundes Umfeld, das eine intakte Natur voraussetzt. Sportler bewegen sich gerne, sie sind mobil, genießen schöne Landschaften, reisen zu Veranstaltungen oder Wettkämpfen, die auch mal weiter entfernt sein können. Sportanlagen benötigen Energie, Strom, Wasser. Alle diese und weitere mit dem Sport verbundenen Infrastrukturen und Aktivitäten müssen künftig umweltverträglich gestaltet sein. Die notwendigen Umstellungen führen immer wieder zu beachtlichen Problemen, aber bieten zugleich viele Ansätze für eine nachhaltige Ausrichtung und Chancen für Kommunikation. Sportler und Sportorganisationen können wichtige Multiplikatoren für die Nachhaltigkeit sein!

Wir freuen uns seit vielen Jahren über Konzepte und Maßnahmen zur Modernisierung von Sportstätten, um deren Verbrauch an Energie, Wasser und Gas zu reduzieren. Oder gemeinsame Initiativen für Natur und Landschaft, Projekte zur Förderung der biologischen Vielfalt und der vergleichsweise umweltschonenden Durchführung sportlicher Veranstaltungen, die auch Vorbildcharakter für andere Bereiche haben können. Der Sport kann über seine Informationskanäle und vielfältigen Bildungsangebote dazu beitragen, dass unsere Ziele und eine Weiterentwicklung der wichtigen Themen rund um Klimaschutz und biologische Vielfalt verbreitet werden.

In den letzten Jahren ist der Dialog zwischen Sport und Naturschutz erfreulicherweise deutlich intensiver geworden: Besonders die Natursportverbände fühlen sich dem natur- und landschaftsverträglichen Sport verpflichtet und haben häufig für die in der Natur praktizierten Disziplinen erfolgreiche Lenkungskonzepte entwickelt. Diese ermöglichen eine angemessene Sportausübung und gewährleisten dabei den Schutz von Natur und Landschaft. Wir freuen uns darauf, solche Überlegungen auf dem Deutschen Naturschutztag in Magdeburg fortsetzen und in den kommenden Jahren möglichst konkrete Projekte in Angriff nehmen zu können.

Fragen: Gabriele Hermani

Dieses Interview ist zuerst erschienen im DOSB-Informationsdienstes SPORT SCHÜTZT UMWELT (Nr. 120).