Aufstand am Zammer Loch

Warum eine Schulklasse von Hannover über die Alpen wanderte

Klassenfahrt einmal anders: Wanderung von Hannover in die Alpen
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Was macht eine zeitgemäße Klassenfahrt eigentlich aus? Sind gemeinsame Schulerlebnisse in der Fremde überhaupt noch sinnvoll, wenn immer mehr Schüler mit ihren Eltern bereits alles erlebt haben: Städtereisen nach Rom, Paris oder New York, Kluburlaube am Mittelmeer oder Kreuzfahrten auf der Aida?

Susanne Brückle, Lehrerin in Hannover, suchte nach Alternativen. Klar war, dass weder Entfernung noch Komfort einer Klassenfahrt mit den Familienreisen mithalten konnten. Doch darum ging es ja auch nicht. Die Fahrt sollte das Lernklima verbessern, sollte die sozialen Kompetenzen fördern und die Bedürfnisse der Schüler in ihrem jeweiligen Entwicklungsstand berücksichtigen. Brückle vermutete, dass gerade das Einfache intensivere Erlebnisse versprach, als ein All-inclusive-Programm überhaupt leisten konnte.

Also Erlebnispädagogik. Und eine Vision: „Wir wollen von Hannover bis nach Italien wandern!“. Die Schüler staunten nicht schlecht und die Eltern guckten recht ungläubig. Immerhin ging es hier um eine fünfte Klasse. Brückle hatte sich mit der Abenteuerschule der NaturFreunde in Baden-Württemberg zusammengetan und ein Konzept für fünf aufeinanderfolgende Klassenfahrten entwickelt, inklusive Vor- und Nachbereitung in der Klasse, Kontakten zwischen Schülern, Lehrern und Erlebnispädagogen auch während des Schuljahrs und einer klaren Zielsetzung für jede Fahrt. Eines sollte nämlich unbedingt vermieden werden: Erlebnisinseln, an die man sich zwar gerne erinnert, die aber keine echte Auswirkung auf den Schulalltag hatten.

Unzählige Blasen und Heimwehattacken
Im September 2010 ging es dann mit einer einwöchigen Wanderung durch das Weserbergland los. Für die Fünftklässler und ihre sechs Begleiter war der Anfang schwer: Es gab kollektive Heimwehattacken, unzählige Blasen und hundertfache „Ich geh jetzt keinen Schritt mehr weiter“-Gedanken. Die Gruppe musste beim Biwakieren unwilligen Förstern und bei Regenschauern nicht immer wasserdichten Jurten trotzen. Auch hatten die Lehrer andere Ansprüche an die Planbarkeit der Prozesse als das Team der Erlebnispädagogen, das mehr auf Outdoortechniken gegen Wind und Wetter und Moderationstechniken gegen stürmische Situationen im Sozialen vertraute.

Doch dann funktionierte es sehr gut. Zum einen, weil die Schüler bei vielen Entscheidungen beteiligt waren: Ein täglicher Klassenrat bestimmte eigene Regeln und Ziele, die Schüler fanden den Weg der 12–25 Kilometer langen Etappen mit Karte und Kompass und sie bereiteten ihre Mahlzeiten über offenem Feuer selbst zu. Der andere Schlüssel zum Erfolg lag fraglos im fortlaufenden Teambuildingprozess, welcher parallel bei Kindern und Erwachsenen ablief. Die vielen kleinen Abenteuer ließen binnen weniger Tage ein starkes Gemeinschaftsgefühl entstehen.

Hellwache und stolze Schüler am Ziel
Schließlich waren auch die Eltern überrascht: Statt wie üblich völlig übermüdete Kinder in Empfang zu nehmen, kam ihnen am Ziel der ersten Wanderfahrt eine Schar glücklicher, hellwacher und stolzer Schüler entgegen. Klar war allen: „Im kommenden Jahr gehen wir weiter!“

Dem Weserbergland folgte im darauffolgenden Jahr der Thüringer Wald, dann der Schwarzwald, dann die Nagelfl uhkette. Immer wieder wurde auch in Naturfreundehäusern übernachtet. Seit der vierten Wandertour über die Nagelfluhkette musste jeder der mittlerweile zum Teenager gewordenen Wanderer sein eigenes Gepäck tragen (maximal zwölf Kilogramm). Die Tage begannen früh und endeten spät. In aller Regel gab es einen steilen Ab- und
Aufstieg. Und es wurde in nach Lauftempo unterteilten Gruppen gewandert.

Zwar war ab Oberstdorf viel Glück auf der Seite der jungen Wanderer: Bei angenehmen Temperaturen und reichlich Sonne stapfte die Truppe durch die Schneefelder der Allgäuer, Lechtaler und Ötztaler Alpen, sah Murmeltiere und Steinböcke, frei lebende Kühe und Pferde und entdeckte Enzian und Edelweiß. Doch gerade in den Alpen mussten immer wieder neue Ausnahmesituationen gemeistert werden: Einen Schüler quälten so starke Magenschmerzen, dass seine Gruppe erst bei Einbruch der Dunkelheit die Hütte erreichte. Eine andere Gruppe hatte derart große Meinungsverschiedenheiten über das Tempo, dass es kurz vor einer der schwierigsten Wegstellen, dem sogenannten „Zammer Loch“, zu einem Aufstand gegen die Pädagogen kam. Und jeden Abend füllte sich das Fußkranken-Lazarett. Doch letztlich machte es sich in allen Situationen mehr als bezahlt, dass alle zusammen bereits etliche Krisen gemeistert hatten.

Als 31 Schüler und sieben Pädagogen am 19. Juli 2014 schließlich den Similaungletscher auf 3.019 Metern erreichten, überschritten sie nicht nur die Grenze nach Italien und den höchsten Punkt des Weges, sondern auch den letzten Gipfel der fünfjährigen Fahrt. Bereits aus der Höhe sahen sie wie ein smaragdgrünes Auge in der Tiefe des Schnalstales den Vernagt-Stausee. Nach einem letzten dreistündigen Abstieg standen sie an dessen Ufer – und hatten ihr Ziel erreicht.

Doch was bleibt von all den Erlebnissen nach dem Abschluss des Projektes? Die Schüler fühlten sich stärker und mutiger, sagten, dass sie die Freiheit der Berge, die Gemeinschaft der Klasse und die Schönheit der Natur lieben gelernt hätten und dass sie die gemeinsame Zeit wohl nie mehr vergessen würden.

Die Pädagogen hatten gelernt, dass der Glaube an die Kompetenz von Kindern und Jugendlichen vielleicht keine Berge versetzt, aber doch sehr hohe bezwingen lässt. Sicherlich auch, dass Partizipation in der Pädagogik der Schlüssel für den Zugang zur Entfaltung von großen Potenzialen ist und nicht zuletzt, dass es nicht auf die Methode ankommt, sondern auf die Authentizität des Pädagogen.

Schulfach Erlebnispädagogik ist möglich
Allen bleibt zudem die Erfahrung, dass Lernen außerhalb des Klassenzimmers auch im Schulkontext erfolgreich ist, dass eine enge und dauerhafte Zusammenarbeit zwischen freien Trägern und Schulen den Lehrplan nur bereichern kann und dass ein gleichwertiges Schulfach Erlebnispädagogik nicht nur möglich, sondern vielleicht auch nötig ist.

Schließlich entspann sich auch die Idee, freiwillige Teilnehmer des Wanderprojekts zu Teamern zukünftiger Wanderklassen fortzubilden. Das ist in Jugendverbänden nichts Neues, an Schulen hingegen ein meist noch nicht gehobenes Potenzial. Auch möchte eine zweite Klasse der gleichen Schule bereits jetzt mit dem Fernwandern beginnen. Und dann existiert auch schon eine neue Vision: Deutschland in acht Wochen am Stück zu durchqueren. Mit einer Schulklasse und natürlich zu Fuß.

Wendelin Haag
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der NATURFREUNDiN 2-2015.