Ein historisches Bekenntnis zum europäischen Naturschutz

Die Ergebnisse der Natura-2000-Fitness-Check-Konferenz in Brüssel

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Die EU-Kommission  wollte das europäische Schutzgebietsnetz Natura 2000 "modernisieren".  Umweltverbände befürchteten eine Schwächung der entsprechenden Naturschutz-Richtlinien und riefen europaweit zur Teilnahme an den Online-Konsultationen auf – mit überwältigender Resonanz. Am 20. November 2015  fand in Brüssel eine erste Auswertung statt. Das Ergebnis: Politiker und Experten  sprechen von einer historischen Konsultation und stehen mit großer Mehrheit hinter den Natura-2000-Richtlinien.

„A historic consultation!“ Sichtlich beeindruckt war nicht nur Daniel Calleja Crespo, EU-Generaldirektor für Umwelt, sondern die gesamte Kommission von der unfassbar hohen Anzahl an Menschen, die sich an der Online-Konsultation zu Natura 2000 beteiligt hatten. 552.472 Eingänge, so viele wie nie zuvor, verzeichnete die Kommission. Erste Ergebnisse der Umfragen wurden auf der Fitness-Check-Konferenz am 20. November 2015 in Brüssel vorgestellt. Über 20 Experten diskutierten in vier Podiumsrunden über das Für und Wider der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) und der Vogelschutzrichtlinie. Der überwiegende Teil der Experten sprach sich in kurzen Statements eindeutig für die Beibehaltung der Richtlinien aus. Lediglich Lina Pietola, die Sprecherin der beiden größten landwirtschaftlichen Dachorganisationen in der Europäischen Union (COPA, COGECA) plädierte für eine Revision der Richtlinien, die veraltet seien und vor allem zu Lasten der Lebensmittelerzeugung gingen. Eine einsame Stimme!

Im Anhörungsmodus

„Die Europäische Kommission hat noch nichts entschieden, wir befinden uns noch im Anhörungsmodus“, mit diesen Worten eröffnete Kommissar Karmenu Vella die Konferenz. „Alles muss auf den Prüfstand, denn wir müssen uns versichern, dass die FFH-Richtlinie und die Vogelschutzrichtlinie die besten Wege sind, um Europas Natur zu schützen“, fuhr Vella fort. Er machte deutlich, dass es ohne die Richtlinien der Natur in Europa viel schlechter ginge, aber die Richtlinien alleine nicht ausreichen, um das Artensterben zu stoppen. Eine zentrale Rolle im Bestreben um den Erhalt der Artenvielfalt spielt für Vella die Landwirtschaft, die er als „Hüter der Biodiversität“ bezeichnete. Neben der Gefahr einer fehlenden Rechtssicherheit und der defizitären Um- und Durchsetzung von Natura 2000 vor Ort stand dann auch, wie zu erwarten, die Landwirtschaftspolitik im Mittelpunkt der Kritik.

Öffentliches Geld nur für öffentliche Leistungen

Jeremy Wates vom europäischen Umweltbüro formulierte es so: „Eigentlich sollte für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) ein Fitness Check erfolgen und nicht für Natura 2000, und wenn man schon dabei ist, sollte man auch gleich die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) mit überprüfen.“ Viele Experten unterstützten diese Aussage und kritisierten die Subventionspolitik, die zu einer Intensivierung der Landwirtschaft führe und das Artensterben beschleunige. Die Experten berufen sich auf Studien, die den Rückgang der Artenvielfalt auf landwirtschaftlich genutzten Flächen eindeutig belegen. Besonders betroffen sind Vögel, Schmetterlinge und wichtige Bestäuber wie Wildbienen und Hummeln.

„Öffentliches Geld nur für öffentliche Leistungen!“ Subventionen haben nur eine Berechtigung, wenn die Empfänger Leistungen für die Allgemeinheit und die Umwelt erbringen – und nicht nur für die Agrarindustrie, war eine oft zu hörende Meinung.

Warnung vor langem rechtlichem Vakuum

„Wollen sie wirklich in 28 Ländern eine neue Gesetzeslage, neue Gebietsgrenzen und neue Daten sammeln? Wir werden bei einer Neugestaltung der Richtlinien über Jahre hinweg nicht nur in rechtlicher Unsicherheit leben, sondern auch viel Geld in die Hand nehmen müssen“, so Dr. Elsa Nickel vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, die sich vehement für eine Beibehaltung der Natura-2000-Richtlinien aussprach. Auch Christopher Prize, der die europäischen Landbesitzer auf der Konferenz vertrat, plädierte für die Beibehaltung der Richtlinien. Er formulierte es noch schärfer. „Investoren, Gewerbe und Industrie brauchen konstante und sichere gesetzliche Rahmenbedingungen. Wir dürfen deshalb diese Büchse der Pandora nicht öffnen.“

Das EU-Parlament steht hinter den Richtlinien

Eine klare Botschaft übermittelte Mark Demesmaker, Berichterstatter des EU-Parlaments: „Das EU-Parlament steht mit großer Mehrheit hinter den Richtlinien. Eine Revision und Schwächung von Natura 2000 lehnen wir ab.“

Wirtschaftlich gut bis sehr gut

Laut Studien schneidet Natura 2000 im Hinblick auf eine vorgenommene Kosten-/Nutzenanalyse gut bis sehr gut ab. Den Kosten von rund sechs Milliarden Euro pro Jahr für Verwaltung und Personal, Gutachten und Kompensationszahlungen stehen über 50 Milliarden Einnahmen aus dem Tourismus gegenüber. Außerdem entstanden europaweit rund 174.000 Arbeitsplätze durch Natura 2000. Und die  Ökosystemleistungen von Natura-2000-Gebieten wie zum Beispiel sauberes Wasser, intakte Böden und bessere Luftqualität beziffern sich auf jährlich 200 bis 300 Milliarden Euro.

Enormer Zuwachs an Wissen über die Natur

Die umfangreiche, wissenschaftliche Datenerhebung für Natura 2000, unzählige Gutachten, Kartierungen und Managementpläne in ganz Europa haben das Wissen über Lebensräume und Arten extrem verbessert. Die Beurteilung von Eingriffen in die Natur oder die Entwicklung von Schutzstrategien für Arten oder Lebensräume können damit eine viel höhere Qualität erreichen, betonten einige Experten. 

Defizite bei Umsetzung, Durchsetzung und Finanzierung von Natura 2000

„Kaum jemand kennt Natura 2000, obwohl 80 Prozent der EU-Bürger, laut einer aktuellen Umfrage, Artenschutz für sehr wichtig halten. Diese Diskrepanz muss beseitigt werden“, warnte Mark Demesmaker. Die lokalen und regionalen Ebenen brauchen deutlich mehr Unterstützung, waren sich viele Experten einig. Nicht nur Gesetze, Vorschriften und Managementpläne, sondern auch das Handeln lokaler Akteure ist entscheidend für das Gelingen von Natura 2000. Der Natura 2000 Prozess vor Ort muss belebt werden. „Die Einbeziehung der Menschen, Mitbestimmung und umfangreiche Information sind von zentraler Bedeutung“, meinte Pierre Commenville vom französischen Ministerium für Ökologie, nachhaltige Entwicklung und Energie. Zudem muss die EU mehr Wert auf Kontrollen legen und Meldungen von Behörden und Organisationen mehr Aufmerksamkeit schenken. „Es gibt immer noch viele Verstöße, bei denen nichts passiert,“ so Commenville weiter.

Für Commenville ist auch die Mittelbereitstellung durch die EU nicht zufriedenstellend. „Warum nutzt man nicht die Gelder aus den gewaltigen Töpfen für die Fischerei und Landwirtschaft für Natura 2000?“, fragte er sich. Auch andere Experten vertraten die Meinung, dass höhere Beihilfen für Naturschutzleistungen ganz entscheidend sind. Die Politik muss beispielsweise bessere finanzielle Anreize für Landnutzer schaffen, um Natura 2000 voranzubringen. Auch Dr. Elsa Nickel sieht das so und forderte einen Paradigmenwechsel in der Agrarpolitik. „Die Gelder aus der ersten Säule schädigen Natur und die Gelder aus der zweiten Säule helfen der Natur. Dieses Subventionssystem arbeitet gegen sich selbst und ist deshalb nicht effizient“.

Erste Schlussfolgerungen und Fahrplan

 „Wir müssen unsere Produktions- und Konsummuster ändern, nicht die Richtlinien, denn ohne Natura 2000 werden wir unsere Artenschutzziele nie erreichen. Der Konflikt zwischen Landwirtschaft und Naturschutz muss entschärft werden, alte Feinbilder müssen abgebaut und nachteilige Beihilfen abgeschafft werden“, resümierte Hans Hoogeveen, niederländischer Generaldirektor für Landwirtschaft und Naturschutz.

„Wir müssen die Probleme bei der Umsetzung und bei der Ahndung von Verstößen identifizieren und Abhilfe schaffen. Auch der Einsatz von Mitteln muss effektiver werden“, meinte Daniel Calleja Crespo. Er ist zudem überzeugt, dass Politik und Bürger deutlich stärker für Natura 2000 sensibilisiert werden müssen. Bei der Überzeugungsarbeit wird die wirtschaftliche Dimension von Natura 2000 eine große Rolle spielen. „Es muss viel mehr darauf hingewiesen werden, welchen großen wirtschaftlichen Wert die Artenvielfalt darstellt“, so Calleja.

Bereits im Dezember 2015 soll der Bericht zur Fitness-Check-Konferenz vorliegen und wenige Monate später, nämlich im Frühling 2016, möchte die Kommission ihre Beratungsergebnisse, Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen der Öffentlichkeit vorstellen. Ein sportlicher Zeitplan!

Alexander Habermeier
Umweltreferent der NaturFreunde Württemberg