Das Geräusch der Stille

Gedanken eines NaturFreundes aus Wuppertal

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In diesem Text versucht der 78-jährige Günter Wülfrath seiner Empathie Ausdruck zu verleihen, die er mit den Flüchtenden auf dem Mittelmeer teilt. Dabei versucht sich der NaturFreund aus Wuppertal in diese hineinzuversetzen und aus deren Perspektive zu schreiben, um ihnen eine Stimme zu geben, die sie hier bei uns nicht haben.

Kann es das geben?

Eine Stille, die Geräusche macht, oder Geräusche, die in der Stille nicht zu hören sind? Diese Fragen schienen mir im ersten Moment ein unauflöslicher Widerspruch zu sein. Aber als ich mir dann vorstellte, dass Stille in unserer Gefühlswelt durchaus wie ein Geräusch empfunden werden kann, fragte ich mich, wie es sich wohl für diejenigen Menschen anhört, die sich in großer Not befinden? Wird diese Stille möglicherweise als Brausen, Jauchzen, Schreien oder Singen empfunden? Oder können das noch ganz andere Geräusche sein? 

Wenn ich an die hierzulande nicht hörbaren Schreie der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge denke, vernehme auch ich das Geräusch der Stille in großer Lautstärke. Besonders intensiv nahm ich dies wahr, als 2018 die Berichterstattung der gekenterten Boote mich regelrecht schwindelig machte. In dieser Zeit schrieb ich den folgenden Text.

Das Geräusch der Stille

Dicht gedrängt liegen oder sitzen sie auf dem schwankenden Boden des alten Schlauchbootes, während unter ihnen die langgezogenen Wogen des Mittelmeers in ihnen Übelkeit aufsteigen lässt.  Das Meer erstreckt sich manchmal blau, meistens aber tiefschwarz, zwischen der Heimat, die sie verlassen mussten, und den Ufern der Zuflucht, die sie möglicherweise nie lebend erreichen werden. Ermattet und erschöpft vergraben sich ihre Gedanken in die Erinnerung. In ihren Träumen erheben sich die Gräuel des Krieges, die Schmerzen des Hungers und die Bilder der getöteten Angehörigen und Freunde zu einem ungeheuren Toben und Brausen.

Die stummen Schreie der Gestorbenen verdichten sich zu einem infernalischen Konzert. Das laute Brausen des Sturmes ist nichts gegen die Stille des Meeres. Diese Stille verstärkt das unhörbare Konzert aus Elend, Not und Zukunftsangst. Die Not hat sie fortgerissen aus ihrer tödlichen Realität zu einer Reise in eine Welt, in der alles besser sein soll, wo Frieden und Freiheit herrschen.  Die Menschen sind von einer Hoffnung erfüllt, die niemand, der ihre Vergangenheit nicht kennt, jemals nachempfinden kann. Auch ich kann sie nicht nachempfinden.

Vor ihrem inneren Auge sehen sie hoffnungsvoll die Gesichter ihrer Kinder, wie sie satt, gesund und fröhlich in einer neuen Zukunft leben. Doch sie öffnen ihre Augen und mit gnadenloser Realität erfasst sie die Angst vor einer Zukunft, die ungewiss bleibt. Die unhörbaren Geräusche der Stille drängen sich in ihren Kopf. Diese stillen Geräusche, die nur sie hören können, werden sie auf ihrem zukünftigen Lebensweg wohl nie mehr verlassen. Diejenigen, die nicht ertrunken sind, fühlen sich gerettet und ihre Hoffnung steigert sich zur Zuversicht. Sichere Schiffe haben sie von ihren alten, maroden Seelenverkäufern übernommen und schon bald sehen sie die Küsten ihrer Träume vor sich. 

Doch sie sind noch nicht gerettet, ihre für kurze Zeit errungene innere Ruhe und Ausgeglichenheit fällt mit unhörbarem Getöse in sich zusammen. Sie können es nicht begreifen und ihre Zukunftsträume zerplatzten im lautlosen Konzert der gnadenlosen Realität. Niemand will sie aufnehmen. Von einem Hafen zum anderen werden sie wie seelenloses Frachtgut hin und her geschickt. Die Mauern der reichen Staaten sind höher als das Meer tief ist.

Nur weil die freiwilligen Helfer*innen, diese echten Humanist*innen, die Geräusche der Stille mit ihren Protesten hörbar machen, können die Flüchtlinge mit ihren Kindern die Schiffe verlassen. Aber nun beginnt ein Geschacher um die Verteilung der Menschen, die niemand bei sich aufnehmen will.  Jeder menschlichen Würde beraubt, werden die Ärmsten in sogenannten Rückführungszentren interniert.  Nicht nehmen kann man ihnen allerdings die traumatischen Erlebnisse, die unhörbaren Geräusche der Stille, die stummen Schreie der Ertrinkenden und die Wahrnehmung der Grausamkeit in einer unmenschlichen Welt.

Die lautesten Geräusche der Stille sind die traurigen und stummen Gesänge der Ertrunkenen. Diese Geräusche der Stille sind wie eine Apokalypse des Weltuntergangs, deren unüberhörbare Klagen im Egoismus verkommener Gesellschaften ertrinken. Solange die Geräusche der Unmenschlichkeit sich in der Stille verstecken, bleiben sie ungehört.

Wenn die Menschlichkeit in unserer Welt wieder einen Platz haben soll, müssen die Geräusche des Schreckens der Stille entrissen werden, damit die Geräusche der Stille zu unüberhörbaren Konzerten werden. Machen wir die Disharmonien der Unmenschlichkeit zu ohrenbetäubenden Fanfaren. Werden wir so laut, dass sie es hören, die Unfähigen, die uns regieren, denn sie haben die Humanität verloren, obwohl sie sie pausenlos beschwören.

Günter Wülfrath
NaturFreunde Wuppertal

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