„Die Bakterien richtig füttern“

Ernährungsberaterin Johanna Feichtinger erklärt, was gesundes Essen auszeichnet

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Frau Feichtinger, ein Löwe wird im Durchschnitt 12 Jahre alt, ein Elefant dagegen 65 Jahre. Was macht der Löwe falsch?

Johanna Feichtinger: Eindeutig: Er frisst zu wenig Obst und Gemüse.

Wer viel Grünzeug zu sich nimmt, lebt länger?

Ja, das ist der wissenschaftliche Sachverstand. Obst und Gemüse enthalten viele antioxidative und entzündungshemmende Stoffe, die für unseren Organismus essenziell sind. Fleisch hingegen enthält eine Reihe Stoffe, die dem Körper zusetzen. Beispielsweise muss das Eiweiß aus dem Fleisch abgebaut werden: Dabei entsteht Ammoniak, das Gift für den Körper ist. Das verursacht einen Zusatzaufwand, der Körper muss entgiften.

Fleisch stresst unseren Körper?

Zumindest ist die Verdauung von Fleisch aufwendiger. In einer Bratwurst zum Beispiel ist viel Fett enthalten, das über die Gallensäure erst einmal emulgiert werden muss, bevor die Enzyme angreifen können, um die Fette zu zerteilen und abzubauen. Das kostet viel mehr Aufwand, als beispielsweise eine Gurke zu verdauen, die zu 90 Prozent aus Wasser besteht. Zudem enthält Fleisch eine Reihe von Stoffen, die ungesund und problematisch sind, zum Beispiel Salz bei verarbeitetem Fleisch. Wenn Fleisch verdaut wird, entsteht die sogenannte Harnsäure, die sich in den Gelenken ablagert und im Alter Gicht verursachen kann.

Johanna Feichtinger (37) hat Ernährungswissenschaften studiert und ist seit sieben Jahren Dozentin sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Verband für Unabhängige Gesundheitsberatung (UGB). Der Verband setzt sich seit 1981 für mehr Gesundheit und Lebensqualität in unserer Gesellschaft ein, indem er zu einer nachhaltigen Ernährung und einer umweltverträglichen Lebensweise motiviert.

Macht Fleisch krank?

Auf jeden Fall macht zu viel Fleisch krank. Statistisch gemittelt wurden im vergangenen Jahr von jedem Deutschen 88 Kilogramm Fleisch gegessen, das sind 1,7 Kilo pro Woche. Eine Folge: 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind in Deutschland übergewichtig, die Hälfte aller erwachsenen Frauen, bei den Männern sogar zwei Drittel! Wobei Übergewichtigkeit auch noch andere Ursachen hat.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, wöchentlich nicht mehr als 500 Gramm Fleisch zu essen. Warum?

Weil übermäßiger Fleischkonsum die Gefahr erhöht, eine ganze Reihe von ernährungsbedingten Krankheiten zu verursachen: angefangen bei Leber- und Nierenerkrankungen über Schlaganfall und Herzkrankheiten, bis hin zu Diabetes und Alzheimer. Zu viel Fleisch führt zu einer Übersäuerung des Körpers. Rotes Fleisch enthält zudem Hämeisen, ein Bestandteil des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin. Und wegen dieses Hämeisens steht rotes Fleisch im Verdacht, Krebs zu verursachen.

Was ist rotes Fleisch?

Braten, Schnitzel, Gulasch – im Prinzip sämtliches Muskelfleisch, das von Rind, Schwein, Schaf oder Ziege stammt. Als besonders gefährlich ist gepökeltes rotes Fleisch einzustufen. Das sogenannte „weiße Fleisch“ gilt als weniger gefährlich – alles, was Geflügel oder Fisch liefert.

Auf der Zigarettenschachtel steht: Rauchen verursacht Krebs. Müsste also auch auf der Schnitzelverpackung ein Warnhinweis stehen: Fleisch verursacht Krebs?

Zumindest „Zu viel Fleisch verursacht Krebs“. Aber dafür gibt es in unserer Gesellschaft keine Mehrheit. Vielleicht ändert sich das in der Zukunft.

Der Fernsehmoderator und Buchautor Franz Alt ist kürzlich 80 Jahre alt geworden. Befragt, wie er sein riesiges Arbeitspensum trotz des Alters schafft, sagte er: „Seit ich mich vegetarisch ernähre, habe ich viel mehr Kraft.“ Wie ist das zu erklären?

Ich weiß natürlich nicht, wie sich Herr Alt vor seiner Umstellung ernährt hat. Wer seine Ernährung von einer konventionellen, gutbürgerlichen „deutschen Küche“ auf vegetarisch umstellt, der nimmt mehr Gemüse, mehr Obst, mehr Vollkornprodukte zu sich als zuvor. Denn wer viel Fleisch isst, der nimmt in der Regel zu wenig Pflanzliches auf und damit zu wenige Vitamine und andere wichtige Substanzen wie Ballaststoffe. Zudem wissen wir, dass Menschen, die vegan oder vegetarisch leben, einen viel bewussteren Lebensstil pflegen. Sie trinken weniger Alkohol, rauchen nicht, bewegen sich mehr, achten mehr auf ihren Schlaf.

Forscher schrieben jüngst im British Medical Journal: „Ballaststoffe sind ein zentraler Nährstoff für eine gesunde Mikrobiota und wurden, während die Debatten über Zucker und Fett tobten, schlichtweg übersehen.“ Was heißt das?

Gemüse, Nüsse, Leinsamen, Haferflocken, überhaupt alle Ballaststoffe sind enorm wichtig für die Darmgesundheit. Wir leben ja nicht allein: In unserem Darm arbeiten ein bis zwei Kilogramm Bakterien daran, dass es uns gut geht. Und die müssen versorgt werden: Die Ballaststoffe enthalten für den Menschen unverdauliche Polysaccharide, mit denen diese Bakterien ernährt werden. Wer wenig pflanzliche Kost zu sich nimmt, der vernachlässigt diese nützlichen Bakterien. Normalerweise werden unsere Zellen mit Nährstoffen aus dem Blut versorgt. Das Blut, was die Darmzellen erreicht, ist aber relativ nährstoffarm. Deshalb brauchen die Zellen dort eine andere Nährstoffquelle: Die Bakterien verwandeln die Ballaststoffe in kurzkettige Fettsäuren, die dann die Darmzellen versorgen.

Mit welchem Effekt?

Man könnte sagen: Wer seine Bakterien richtig „füttert“, der erhöht die Chance, bestimmte Krankheiten zu vermeiden. Evolutionär haben diese Bakterien geholfen, dass wir zum modernen Menschen wurden: Es gab früher eben nur selten das Fleisch eines erbeuteten Mammuts und auch noch keine Kartoffeln oder die heutigen Getreidesorten. Die Bakterien halfen uns, Wurzeln und Pflanzenfasern so aufzuschließen, dass wir daraus Energie für unseren Körper gewinnen konnten.

Und heute ist der Darm voller Fleisch?

Das könnte man so sagen! Der Sonntagsbraten ist zum Alltagsessen geworden und dadurch werden unsere hilfreichen Bakterien nicht mehr richtig satt. Viele ernähren ihre nützlichen Helferlein falsch und die falschen dafür um so mehr.

Also dann: Was ist gesundes Essen?

Erstens ist gesundes Essen überwiegend pflanzlich! Zweitens ist gesundes Essen „gering verarbeitet“ – also keine Fertiggerichte aus dem Supermarkt, sondern selbst frisch gekochtes Essen. Drittens muss gesundes Essen bekömmlich sein: Nicht alles, was für den einen gesund ist, ist es auch für den anderen. Es gibt zum Beispiel Menschen, die vertragen Vollkorn nicht so gut, sie bekommen Blähungen und das ist natürlich nicht gesund. Und viertens schließlich zeichnet sich gesundes Essen durch regionale und saisonale Zutaten aus: In einer gut ausgereiften Tomate haben wir mehr sogenannte sekundäre Pflanzenstoffe, die die Mahlzeit bereichern.

Muss gesundes Essen fleischlos sein?

Nicht zwangsläufig! Allerdings sollte nicht täglich Fleisch gegessen werden. Tatsächlich liegt die Verzehrmenge an Fleisch in Deutschland im Durchschnitt 300 Prozent über der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation. Männer sind davon häufiger betroffen als Frauen, auch die Bildung spielt eine Rolle: Gebildete Menschen ernähren sich gesünder.

Was schlagen Sie vor für ein besseres Essen?

Wir müssen das Thema zurück in die Schulen bringen! Und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens müssen wir vermitteln, was gesunde Ernährung ist und welchen Schaden die ungesunde Praxis anrichtet. Wir müssen aber zweitens auch wieder praktisch werden: Viele junge Frauen und Männer wissen heute gar nicht mehr, wie Kochen geht, weil es schon ihre Eltern nicht mehr praktizierten. Das Selbst-Kochen ist aber eine Voraussetzung, um sich bewusst mit der eigenen Ernährungsweise auseinanderzusetzen. Wir als „Verband für Unabhängige Gesundheitsberatung“ versuchen die Praxis der pflanzenbasierten Vollwerternährung voranzutreiben: ein Ernährungskonzept, das auf frische und unbehandelte Nahrungsmittel sowie Vollkornprodukte setzt und nachweislich das gesündeste und ökologischste ist.

Interview: Nick Reimer