Wie die Bundesregierung die Erneuerbaren gegen die Wand fährt

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Die Zahl 325 drückt das ganze Elend aus. Im vergangenen Jahr wurden 325 Windräder mit einer Leistung von gut 1.000 Megawatt in Deutschland neu ans Netz genommen. In guten Jahren gingen so viele Anlagen binnen zweieinhalb Monaten ans Netz. Aber die guten Jahre sind längst vorbei, bereits 2018 war der Ausbau „eingebrochen“, wie es der Bundesverband Windenergie formulierte: 2018 wurden Anlagen mit 2.400 Megawatt neu installiert, ein Minus von 55 Prozent gegenüber 2017.

Der Windkraftausbau wird massiv ausgebremst

Nun also der fast vollständige Stillstand; weniger Windräder gingen zuletzt 1998 ans Netz, damals regierte ein gewisser Helmut Kohl. Die Branche stöhnt, ein Windgipfel mit der Politik jagt den nächsten, 35.000 Arbeitsplätze sind in Gefahr. Dabei müsste die Sache doch eigentlich klar sein: Angela Merkels Union hat in der Großen Koalition mit der SPD beschlossen, den Ökostromanteil in Deutschland bis 2030 auf 65 Prozent zu steigern. Dafür müssten ab jetzt jedes Jahr 2.500 mittelgroße Windräder (oder 1.000 sehr große) neu aufgestellt werden. Das sind sechsmal so viele, wie im vergangenen Jahr neu hinzukamen.

Um zu begreifen, wie die Lücke zwischen Ziel und Realität zustande kommt, muss man sich mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) befassen, dass im Jahr 2000 in Kraft trat und als wohl marxistischstes Gesetz der Bundesrepublik bezeichnet werden darf. Indem es auch Normalbürger*innen auf 20 Jahre einen festen Abnahmepreis für selbst produzierten Strom garantiert, konnte auch Max Musterfrau einen „Stromkonzern“ gründen und den Großkonzernen Marktanteile abjagen. Denn die Preisgarantie machte sie kreditwürdig.

Eine geniale Erfindung: Das EEG löste ein wahres Investitionsfeuerwerk aus, unglaubliche 100 Milliarden Euro wurden allein in den ersten zehn Jahren mobilisiert und schon bald wird die 200-Millionen-Marke überschritten. Nur deshalb können wir heute aus der Atom- und Kohlekraft aussteigen. Ein wahrer Segen auch für die Politik: Ohne diese Privatinvestitionen wäre die deutsche Energiewende nicht dort, wo sie ist – 2019 lieferten die Erneuerbaren erstmals mehr Strom als die Fossilkraftwerke.

Im Windschatten des EEG entstand eine neue Industrie, die bald doppelt so viele Menschen beschäftigte wie die fossile Stromwirtschaft. Die Innovationskraft der Windkraft-, Biogas- und Solarpaneel-Hersteller war beispiellos: Die Kosten für ein neues Sonnenkraftwerk fielen beispielsweise dank technologischen Fortschritts jährlich um 13 Prozent. Und weil das plötzlich die Nachfrage ankurbelte, weil plötzlich nicht mehr nur Klimaschützer* und Pionier*innen der Energiewende investierten, wurde immer mehr produ-ziert, was die Kosten pro Stück weiter senkte.

Die Fossillobby macht Stimmung

Verglichen mit den Anfangsjahren kostet die Fotovoltaik heute nur noch zehn Prozent. Bei der Windkraft ist das ähnlich – und erst diese Kostensenkung in Deutschland sorgte dafür, dass heute weltweit tatsächlich mehr Geld in erneuerbare Kraftwerke gesteckt wird als in fossile. Es lohnt sich einfach nicht mehr, ein neues Kohlekraftwerk zu bauen, Fotovoltaik ist billiger.

Das hat den deutschen Energiemarkt revolutioniert: Schätzungen zufolge sind inzwischen mehr als 1,5 Millionen Deutsche Besitzer*innen von Grünstromkraftwerken. Die ehemals großen Stromkonzerne besitzen gerade einmal fünf Prozent. Und so haben sich auch die Marktanteile gehörig verändert: Konnten sich Eon, RWE, EnBW und Vattenfall früher quasi alles erlauben, stehen sie heute gehörig unter Druck. Der Börsenwert von Eon ist seit 2008 um fast 90 Prozent eingebrochen. Weil RWE an der Braunkohle festhielt, musste der Konzern 2013 einen Verlust von 2,443 Milliarden Euro wegstecken, was wichtige Aktionäre wie die Städte Dortmund oder Essen in die Krise trieb. Weil sich Kohle nicht mehr lohnt, ist Vattenfall 2016 gleich ganz aus der deutschen Kohleverstromung ausgestie-gen – sieht man einmal vom neu gebauten Kraftwerk in Hamburg-Moorburg ab, das vermutlich niemals Profit abwerfen wird.

Die schlechten Aussichten riefen immer stärker die Lobby der Fossilwirtschaft auf den Plan. In Deutschland hieß es anfangs, die Erneuerbaren könnten „auch langfristig nie mehr als vier Prozent unseres Strombedarfs decken“. Dann waren die Erneuerbaren viel zu teuer, als dass ein Industrieland wie Deutschland sich so etwas leisten könne. Schließlich geriet die „Versorgungssicherheit“ in Gefahr – was, wenn die Sonne mal nicht scheint? Eine gigantische Lobbymaschinerie wurde angeschoben, um die Pfründe zurück zu bekommen.

Hier ein paar Spotlichter auf die Spitzen des Eisberges: Bekannt wurde, dass RWE dem damaligen CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer 81.800 Euro zahlte und ihn überdies kostenlos mit Strom belieferte. Meyer zeigte sich erkenntlich. Vattenfall beschäftigte nebenbei Martina Gregor-Ness, die umweltpolitische Sprecherin der SPD in Brandenburg, die sich mit entsprechender Politik revanchierte. Die ehemals rechte Hand von Angela Merkel, Staatsministerin Hil-degard Müller (CDU), wurde hoch dotierte Chefin des Bundesverbandes der Energiewirtschaft. Johannes F. Lambertz, der Chef der RWE-Kraftwerkssparte, wurde im CDU-Wirtschaftsrat gleich direkt zuständig für die Energiepolitik.

Mit einigem Erfolg: Es war Angela Merkels schwarz-gelbes Regierungsbündnis, dass 2011 dem Investitionsfeuerwerk der Max Musterfrauen einen Dämpfer versetzte. Die Regierung senkte die Einspeisetarife nicht nur für neue Solarkraftwerke, sondern auch für solche, die schon gebaut waren. Nicht nur ein wenig, sondern drastisch: im Juni 2011 zum ersten Mal, im Januar 2012 zum zweiten Mal – um 15 Prozent – und immer weitere Kürzungen schlossen sich an.

Der Solarmarkt bricht vor der weltweiten Konkurrenz ein

Was folgte, war logisch: ein „Einbruch“ beim solaren Ausbau. Wurden im Jahr 2012 noch Kraftwerke mit 8.300 Megawatt Leistung neu errichtet, waren es zwei Jahre später gerade einmal ein Viertel so viel. Von dieser Tarifsenkung hat sich die Branche bis heute nicht erholt. Deutschland, der weltgrößte Solarmarkt, wurde von China, Indien, Japan und den USA überholt. Dem Markteinbruch folgte eine beispiellose Deindustrialisierung: „Solar Valley“ wurde ein Produktionsstandort nahe Bitterfeld in Sachsen-Anhalt genannt, an dem mehr als 3.000 Menschen in der Solarwirtschaft arbeiteten. Sie wurden entlassen. Mehr als 3.000 Jobs gingen in Sachsen allein am Standort Freiberg verloren, in Arnstadt (Thüringen) war für 3.300 Solarwerker*innen Schluss, in Frankfurt/Oder ging für 5.000 Menschen das Licht aus. Von ehemals 140.000 Arbeitsplätzen in der Solarbranche brachen in nur fünf Jahren 97.200 Jobs weg – dreimal so viele, wie es heute noch in der Kohlewirtschaft gibt.

Sie hießen Q-Cells, Inventux, Solon oder Solar Millennium: Längst sind die deutschen Fimen von ausländischen Konzernen übernommen worden. Ihre Produktionsstätten wurden in China, Malaysia oder Korea wieder aufgebaut.

Aber das war nur ein Zugewinn für die Investor*innen: Mit den Firmenübernahmen gelangten auch jene Patente in ihren Besitz, welche die deutschen Stromkund*innen mit der EEG-Umlage einst erst ermöglichten. Zwar kaufte das „Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE“ einige solcher Patente, „für den Erhalt dieser Zukunftstechnologie in Deutschland“, wie Institutsleiter Eicke Weber erklärte. Das Gros aber nutzten die Asiat*innen für ihren technologischen Siegeszug.

Fotovoltaik aus Deutschland? Für Volker Quaschning ist der Zug abgefahren: „Der Weltmarkt wächst jährlich um 20 bis 30 Prozent“, sagt der Professor für regenerative Energiesysteme. Um konkurrenzfähig zu bleiben, müsse ein Konzern mitwachsen, denn wenn er nicht wachse, verdoppele sich der Konkurrent in drei bis vier Jahren und könne dann ganz andere Preise bei Zulieferern aushandeln. Quaschning: „In dem Moment, wo der Heimatmarkt weggebrochen ist, hatten die Deutschen keine Chance mehr, mitzuwachsen.“ Und damit haben sie den technologischen Anschluss verloren: Solarzellen „Made in Germany“ haben heute einen Weltmarktanteil von unter einem Prozent und Quaschning spottet: „Die deutschen Zukunftstechnologien sind Verbrennungsmotoren und Kohlebagger.

“Zumindest, wenn jetzt nicht die Windkraft gerettet wird. „Wir wollen die Energiewende nicht stoppen, sondern steuern“, erklärte Unionsvize Georg Nüßlein im Jahr 2016. Um dann eine Reform des Enereuerbare-Energien-Gesetzes zu erarbeiten, die genau das macht: Schluss mit der Energiewende – zumindest Schluss mit einer funktionierenden, die den Ausbau über die EEG-Umlage regelt.

Nach dem alten EEG-System konnte praktisch jeder ein neues Grünkraftwerk bauen. Im neuen System werden Anlagen aber „ausgeschrieben“: Die Bundesnetzagentur stellt ein Projekt vor und fordert Investor*innen auf, Preise zu benennen, zu denen ein Solarfeld oder ein Windpark gebaut werden kann. Wer das billigste Angebot benennt, erhält den Zuschlag.

Lehren aus Großbritannien

Jahrelang war dieses „Ausschreibemodell“ in Großbritannien gängige Praxis. Und scheiterte. Das Stromnetz funktioniert wie eine Badewanne mit gleichbleibendem Wasserspiegel: Hinein fließt immer nur so viel, wie gerade gebraucht wird, also abfließt. Und wenn viel Windstrom hineinströmt, kann das Kohlekraftwerk weniger Strom verkaufen. Große Akteure wie die Energiekonzerne haben deshalb gar kein Interesse, neue Windräder zu bauen. Schließlich machen die ihren alten Kohlekraftwerken Konkurrenz.

Kleine Akteure haben Schwierigkeiten, überhaupt ein Angebot abzugeben: Oft kostet die Projektierung bereits sechsstellige Summen, die Genossenschaften nicht vorschießen können, zumal der Zuschlag nicht feststeht. Was in Großbritannien zu beobachten war, ist nun auch in Deutschland Praxis: Im September 2019 wurden Windräder mit 500 Megawatt Leistung ausgeschrieben, aber es gab zu wenige Angebote. Lediglich 187 Megawatt werden gebaut. In Großbritannien hat man 2013 übrigens das „Ausschreibemodell“ abgeschafft und durch ein EEG ersetzt. Seitdem läuft dort die Energiewende.

Populismus und Eigensinn

In Deutschland kommen Populismus und Eigensinn dazu: Überall dort, wo Projektierer auftauchen, um einen Windpark bauen zu wollen, regt sich Widerstand bei Anwohner*innen. Statt sich damit auseinanderzusetzen, reagiert die Politik – zumindest die, die gegen die Energiewende ist – mit Abstandsregeln, die Windkraft praktisch unmöglich macht. Dort jedoch, wo Anwohner*innen in ein Projekt eingebunden und am Gewinn der Anlagen beteiligt werden, gibt es breite Zustimmung zum neuen Windpark.

Wenn auf dem Heimatmarkt immer weniger Windräder bestellt werden, dann gibt es in den Fabriken auch immer weniger zu tun: Der Hersteller Vestas schickte in seinem Brandenburger Werk in Lauchhammer Ende September 500 Menschen nach Hause – und strich damit dort fast jeden zweiten Arbeitsplatz. Konkurrent Siemens Gamesa kündigte die Entlassung von 600 Beschäftigten an, das ostfriesische Unternehmen Enercon setzte in den letzten eineinhalb Jahren 1.200 Arbeiter*innen vor die Tür. Vor Jahresfrist musste Konkurrent Senvion Insolvenz beantragen, 1.500 Jobs sind in Gefahr.

Noch ist die Windindustrie aus Deutschland eine weltweit führende Branche. Hersteller, Zulieferer und Dienstleister beschäftigen heute immer noch rund 130.000 Menschen. Die Konkurrenz aus China ist hier deshalb noch nicht so groß, weil Windräder nur schwierig über die Weltmeere transportiert werden können. Doch die Gefahr ist groß, dass den Windmüller*innen dasselbe Schicksal droht, wie der Solarwirtschaft: ein Wegbrechen des Heimatmarktes.

Volker Quaschning vermutet dahinter politisches Kalkül. „Beschlusslage – Stand Februar – ist, bis 2038 Kohlekraftwerk laufen zu lassen“, sagt der Professor. Wer so etwas beschließe, der wolle nicht, dass Windräder „die Kohle verdrängen“.

Nick Reimer